FilmMaterialien 6 - Paul Dessau.

Vorstoß in Neuland

Kammermusik im Kino

Hindemith, Dessau, Erdmann

in: Film und Ton, Nr. 19, 11.5.1929


Von »Entwicklung in der Filmmusik« wird häufig, allzu häufig gesprochen und der denkende, ernsthafte Freund filmmusikalischer Entwicklungen schüttelt dabei manches Mal den Kopf. Um so aufmerksamer horcht er auf, wenn an die Stelle von Worten - um nicht zu sagen Phrasen - auch einmal Taten treten. Paul Dessau, dem es um die Filmmusik bitter ernst ist, und sein kleiner Kreis zeigen den wirklichen Willen und Mut zur Tat. Sie beginnen Bresche zu schlagen, und zwar genau dort, wo eine dicke Mauer den Film von der malenden Kammermusik trennt. Sie finden in der auf orchestrale Grundlage gestellten »Illustrationsmusik« kein Genügen. Nur von dieser Absicht aus, die Kinothekstimmung zu vertiefen und zu erweitern, ist der Titel der Veranstaltung in der »Alhambra« zu verstehen. »Kammermusik und Filmmusik«! Scheinbar ein Widerspruch. Aber in Wahrheit ein Protest gegen die Konvention, gegen die Gewohnheit, gegen den Apparat!

Paul Dessaus anmutige Musik zu dem Puppenfilm DIE WUNDERUHR entnimmt dem filmischen Vorwurf nicht so sehr die Themen, sondern die treffende, treffliche Charakterisierung durch die Instrumente steht obenan. Hinter dem Mysterium der Puppen steckt kräftige Realität: Holzbläser mit eigentümlichen Wendunge und Verbeugungen zu der Dienerschaft, den Streichern. Sobald diese Technik erkannt ist, wünscht man freilich reichere Kombinationen der Instrumente an Stelle solcher durchsichtig bleibender Favorisierung von Holz und Blech. Den elegant und galant sich rankenden Motiven käme so größere Freiheit zugute. Ein wenig Verbissenheit, ein wenig Frechheit, viel liebenswürdige Verhöhnung des Gegenständlichen, das sind Charakteristika von Dessaus Musizierfreudigkeit. Mitunter haut er den Knoten mittendurch und dann zeigt sich für Augenblicke der reine Musiker, als den wir ihn eher in der Sonatine für Bratsche und Cembalo erkennen. Hindemith und Eigel Kruttke leihen ihr Technik und Wärme. Unsere polyphon geschulten Ohren wollen gutwillig nur schwer an eine Zwiesprache zweier so grundverschiedener Instrumente glauben, zumal dem Gespräch jene Konsequenz und Eindringlichkeit einer Thematik fehlt, welcher der Bezeichnung Sonatine gemäß wäre. Die Gedanken lösen einander zu rasch ab. Von ungetrübtem Impuls hingegen schäumt das orchestrale Werkchen zu dem Trickfilm ALICE UND DER SELBSTMÖRDER. Hier entspringt die gemütvolle Spötterei einer souveränen Behandlung, die Schalkshemen werden von dem Filmspiel aufgesogen, die Einheit wird hergestellt.

Aber - wenn dies alles auch dem Herzen entsprungen sein mag, im Kopf widerspricht es der trickfilmischen Irrealität. Sollen wir dies etwa verschweigen, und Dessau zum Spezialisten für Schattenspiel und Trickfilme werden lassen?

Die Wahrheit, die das Kino, die der Film gerade noch verträgt, enthüllt unbewußt Dr. Hans Erdmann. Er, gründlicher Kenner des im Kinoorchester gerade Noch-Möglichen, macht die unerläßlichen Konzessionen. Die Farben in der Instrumentation täuschen nicht über die strenge Unterordnung in kinomusikalische Formalitäten und darum muß auch das Flötensolo rettungslos untergehen. Der klare, knappe Filmstoff fordert eben diese klare, knappe Diktion, bei der Originalität unnötig wird. Diktion stört das Ausspinnen der Melodik nicht. Ökonomie ist Grundzug der Exposition.

»Filmmusik - Kammermusik«! Die skizzierte Improvisation, die Dessau vorschwebt, sie verneint durch ihre Existenz alle kino-orchestralen »Errungenschaften«. Sozusagen: Errungenschaften! Die Zahl der Musiker im Orchesterkörper droht zum Maßstab des Fortschritts in der Kinomusik zu werden. Die Bandwürmer der Kinothekmusiken krönen diesen »Fortschritt«.

Die Veranstaltung in der »Alhambra« erbrachte den Beweis, daß die künstlerische Entwicklung, die wir auf der Leinwand erleben, ihr Widerspiel in der modernen Kino-Musik findet. So wie der Film heute den Rang eines Kunstwerkes erkämpft hat, so muß der eigentümliche künstlerische Wert der Film-Musik durchgesetzt werden. Daß für diese Umwertung die jungen, aktiven Kräfte bereits vorhanden sind - das bewies der Beifall während und am Schluß der Veranstaltungen, der vor einem selten gesehenen Parkett von Künstlern und Musikern hohen Ranges gezollt wurde.


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