Reihe CineGraph Buch

Johannes Roschlau 
(Red.)
im Zeichen der Krise

Das Kino der frühen 1960er Jahre

Johannes Roschlau:
Wege aus dem Wellental



Das Wunder des Malachias
(BRD 1960/61, Bernhard Wicki)


Wege aus dem Wellental

Das Kino der frühen 1960er Jahre assoziieren Filmhistoriker und Cineasten
vor allem mit den frischen Impulsen der französischen Nouvelle Vague und der tschechoslowakischen Neuen Welle oder den stilbildenden Werken italienischer und polnischer Regisseure. Das zweigeteilte Deutschland lag zwar geografisch in der Mitte dieser Länder, war aber weit davon entfernt, im Zentrum dieser filmkünstlerischen Entwicklungen zu stehen. Befragt man dazu die zeitgenössischen Quellen, so springt einem im Gegenteil aus den Kritiken und Grundsatzartikeln in Tagespresse, Fachzeitschriften und Branchenblättern immer wieder dasselbe Schlagwort entgegen: die Filmkrise.
Erstaunlicherweise handelte es sich dabei um ein gesamtdeutsches und damit systemübergreifendes Phänomen, obwohl sich die Rahmenbedingungen für die Filmproduktion in beiden deutschen Staaten radikal voneinander unterschieden. In der Bundesrepublik gab es privatwirtschaftliche Produktionsfirmen, deren Produkte auf einem kapitalistischen Markt miteinander konkurrierten und nur durch die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft geprüft wurden. In derDDRwar die Spielfilmproduktion monopolisiert, durch die DEFA als zentrale Staatsfirma mit angestellten Regisseuren, die einen vorgegebenen Plan abarbeitete und dabei versuchte, die ideologischen Leitlinien der SED in Filme umzusetzen.
Dennoch waren Anfang der 1960er Jahre auf beiden Seiten der Grenze dieselben Erscheinungen zu beobachten: Die Kritiker waren unzufrieden, die Zuschauer wandten sich zunehmend ab und liefen zum Fernsehen über, die Filme waren allenfalls Durchschnittsware und fielen auf internationalen Festivals (wenn sie überhaupt angenommen wurden) deutlich ab gegenüber den Beiträgen der europäischen Nachbarn. Auch die Filmschaffenden kritisierten hier wie dort schlechte Produktionsbedingungen und verschiedene Restriktionen, die sie davon abhielten, ihre künstlerischen Vorstellungen umzusetzen.
Selbst bei den Klagen über inhaltliche und ästhetische Defizite gab es Parallelen in Ost und West. Man vermisste vor allem das, was das junge europäische Kino in dieser Zeit gerade auszeichnete: den Mut, sich auf die Wirklichkeit einzulassen, sich mit den sozialen und politischen Realitäten auseinanderzusetzen und gleichzeitig neue Formen des filmischen Erzählens zu entwickeln. So gut wie unberührt von den innovativen filmkünstlerischen Trends in den Nachbarländern folgte die Filmproduktion beiderseits der Grenze in der Regel einem mutlosen Schematismus – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: Während in der Bundesrepublik risikoscheue Produzenten krampfhaft an eingefahrenen Serien-Schablonen von »Papas Kino« festhielten, lähmten in der DDR die dogmatischen Vorgaben des »Sozialistischen Realismus« und Parteikampagnen gegen »Formalismus« und »kleinbürgerliche Tendenzen« die Kreativität der Filmschaffenden.
Sucht man in dieser Krisenzeit nach Ereignissen und Phänomenen, die das besondere Interesse der deutschen Filmgeschichtsschreibung auf sich gezogen haben, wird man erst Mitte des Jahrzehnts fündig. In der Bundesrepublik war dies 1966 das erste Auftreten des »Jungen Deutschen Films« gleich mit einer Reihe von Produktionen, in der DDR der filmpolitische Kahlschlag durch das 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965, in dessen Folge ein Großteil der DEFA-Jahresproduktion verboten wurde. Zwei gut erforschte Zäsuren also, ein verheißungsvoller Anfang und ein abruptes Ende.
Aber was passierte auf dem Weg dorthin? Gab es da nicht auch schon Regisseure und Autoren, die stilistisch neue Wege erprobten, gesellschaftlich und politisch heikle Themen aufgriffen und den Anschluss an die Entwicklungen des europäischen Kinos suchten? Welche Möglichkeiten dazu boten sich ihnen überhaupt, wo fanden sie Unterstützung und auf welche Widerstände und Grenzen stießen sie bei diesen Bemühungen? Wie reagierten Kritik und Publikum und wo verliefen bei der Beurteilung der Filme die Konfliktlinien? Dies sind die zentralen Fragen, mit denen sich die Beiträge des vorliegenden Bandes auseinandersetzen. Es geht dabei um eine Revision im Sinne einer möglichst unbefangenen Wieder-Betrachtung dieses Zeitraums aus dem Abstand von 50 Jahren und damit auch um eine Differenzierung seiner bisherigen filmhistorischen Bewertung, die wohl etwas zu sehr durch die ideologischen Vorurteile und Grabenkämpfe der zeitgenössischen Rezeption vorgeprägt wurde.
Wenn sich in der Bundesrepublik etablierte Regisseure (und ehemalige Hoffnungsträger) wie Helmut Käutner und Rudolf Jugert an neuen Stilmitteln und brisanten Themen versuchten, dann hatten sie nicht nur mit skeptischen Produzenten und Verleihern zu kämpfen, sondern auch mit einer »progressiven« Kritik, die sie als Vertreter von »Papas Kino« abstempelte und ihre innovativen Tendenzen ignorierte. Eigenwillige Einzelgänger außerhalb der traditionellen Produktionsstrukturen erschienen da vielversprechender: Will Tremper avancierte mit seinen unorthodox finanzierten und gedrehten Filmen zeitweilig zum Hoffnungsträger des deutschen Kinos, der Kabarettist, Schauspieler und Regisseur Wolfgang Neuss machte mit satirischen Rundumschlägen gegen Kalte Krieger und Altnazis genauso von sich reden wie mit virtuoser Fördermittelbeschaffung und genialer Selbstvermarktung im Spannungsfeld zwischen Kino und Fernsehen.
Von den nachdrängenden Jungfilmern, die sich in diesen Jahren mit ihren
Kurzfilmen für größere Aufgaben empfahlen, sind am bekanntesten die 26 münchner Filmschaffenden, die im Februar 1962 mit dem »Oberhausener Manifest« öffentlichkeitswirksam einen filmpolitischen Neuanfang einforderten. Da die »Oberhausener« im Jubiläumsjahr 2012 bereits ihre verdiente Würdigung als Väter des Jungen Deutschen Films erfahren haben, soll hier die Aufmerksamkeit auf andere Gruppierungen und Institutionen gelenkt werden, in denen ganz unterschiedliche Visionen eines neuen Kinos entstanden: Die dem Konzept eines wirklichen »Autorenfilms« verpflichtete Filmabteilung des Literarischen Colloquiums Berlin unter Wolfgang Ramsbott, in der u.a. George Moorse und Helmut Herbst erste Experimental- und Kurzspielfilme drehten, und die »Münchner Gruppe« um die Cineasten und Filmkritiker Rudolf Thome, Klaus Lemke undMax Zihlmann, die stark an der Nouvelle Vague und dem US-Genrekino orientierte Kurzspielfilme inszenierten.
Für die Filmschaffenden in der DDR schien ausgerechnet der Bau der Mauer im August 1961 einen Ausweg aus der Filmkrise zu ermöglichen, denn sie sahen darin eine willkommene Zäsur, die ihren künstlerischen Spielraum zu erweitern versprach. Nachdem die existenzielle Bedrohung des jungen Staates durch die Massenabwanderung nach Westen abgewendet war, hoffte eine neue Generation von Regisseuren und Autoren aus den Filmhochschulen in Babelsberg, Moskau und Prag sowie dem DEFA-Nachwuchsstudio, sich nun endlich solidarisch-kritisch und auf ästhetisch anspruchsvolle Weise mit den ökonomischen und sozialen Problemen beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft auseinandersetzen zu können.
Gefördert durch undogmatische Kultur-Funktionäre, entstand bis 1965 eine Reihe von Gegenwartsfilmen, die – zunehmend mutiger werdend – die Grenzen des inhaltlich und formal Erlaubten ausloteten. Besonders heikel war dieser Prozess bei Filmen, die sich mit Mauerbau und Republikflucht beschäftigten. Während sie sich ästhetisch zum Teil offen an aktuellen Trends des europäischen Kinos orientierten, wandelte sich der Blick auf die Flüchtlinge hier von der plumpen Denunziation in älteren Filmen zur differenzierten Charakterzeichnung in Konrad Wolfs Der geteilte Himmel (1963/64).
Egon Günthers Lots Weib (1964/65), der letzte offen realistische Gegenwartsfilm, der vor dem 11. Plenum ins Kino kam, war ein Musterbeispiel für den Trend, das Publikum mit kontroversen Geschichten um Fragen der »Sozialistischen Moral« zu konfrontieren und es durch die Verweigerung von Patentlösungen oder Happy Ends zum Weiterdenken zu animieren. Die heftig diskutierten Oberflächenthemen wie Scheidung und weibliche Emanzipation verbargen dabei allerdings einen Subtext, der grundsätzliche Gesellschaftskritik übte.
Ein wichtiger und noch wenig gewürdigter Faktor in dieser Entwicklung war die publizistische Unterstützung der Reformkräfte in der DEFA und der Kulturpolitik durch die Fachzeitschrift film – Wissenschaftliche Mitteilungen, die unter dem jungen Chefredakteur Heinz Baumert vor allem 1964/65 in der »heißen Phase« vor dem Kahlschlag als zentrales Diskussionsforum für Filmschaffende und Kritiker fungierte. Um die DEFA für Einflüsse von außen zu öffnen, verwies sie u.a. auch auf das tschechoslowakische Kino als Vorbild. Ein Blick auf die politischen und kulturellen Rahmenbedingungen der Filmproduktion im sozialistischen »Bruderland« soll deshalb erste Hinweise darauf geben, warum es in der DDR zwar einen kleinen Filmfrühling, aber eben keine »Neue Welle« gab.
Auf den ersten Blick stehen sich die Texte zum Kino der Bundesrepublik und zum DEFA-Film in diesem Band wie zwei abgeschlossene Blöcke gegenüber, die die jeweils systemspezifischen Reaktionen auf eine ähnlich gelagerte Krisenproblematik skizzieren. Schaut man jedoch genauer hin, wird bald deutlich, dass eine gesamtdeutsche Perspektive auf den Film der frühen 1960er Jahre unerwartete Aufschlüsse geben kann über Analogien und Kongruenzen, Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten in der Entwicklung des deutsch-deutschen Kinos oder auch über die systemübergreifende Beharrungskraft sozialer Traditionen.
Besonders fruchtbar ist dieser Ansatz möglicherweise, wenn man dem unterschiedlichen Zugriff auf Themen nachgeht, die unter den Vorzeichen des »Kalten Krieges« auf beiden Seiten der Grenze virulent waren: In Filmen, die den Zustand der eigenen Gesellschaft, die NS-Vergangenheit oder die Teilung Deutschlands verhandelten, ging es implizit oder explizit oft auch um den anderen deutschen Staat. Ein Beispiel für eine solche Herangehensweise ist der Beitrag zur filmischen Konstruktion von Rollenmodellen und Geschlechterbildern im Szenen- und Kostümbild west- und ostdeutscher Filme, der flankiert wird durch eine Analyse des Bildes weiblicher Teenager im österreichischen Film dieser Zeit.
Das Kino der frühen 1960er Jahre hatte viele Gesichter. Dieser Band bietet einige Mosaiksteine für ein Gesamtbild dieser widersprüchlichen Periode zwischen Krise und Aufbruch. Er will gleichzeitig dazu ermutigen, die filmhistorischen Forschungsperspektiven auf diese Zeit über System- und Ländergrenzen hinaus zu erweitern.

Johannes Roschlau


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