Reihe CineGraph Buch

Helga Belach, Wolfgang Jacobsen (Redaktion): Richard Oswald. Regisseur und Produzent

Aufklärung, Kommerzialismus und Demokratie

oder: Der Bankrott des deutschen Mannes


Klaus Kreimeier


Unsere Männer dürfen eben nicht mehr bloß
Männer, Untertanen oder Berufstätige sein,
sondern sie müssen Menschen werden.
H. von Kahlenberg

Ob Richard Oswalds »Aufklärungswelle«, wie Walter Kaul behauptet, »zum Orkan anwuchs«, sei dahingestellt -- fest steht, daß ein größerer Sturm die Woge der volkspädagogischen Aufklärungsfilme nach 1918 aufgewirbelt und sie mit den Schaumkronen einer anderen »Welle«, der Nachkriegs-Pornografie, auf das zügelloseste vermengt hatte. Ohne die an die Fundamente der Kultur rührende psychische Krise der letzten Kriegsjahre, ohne die Novemberrevolution in Deutschland und ihre verspäteten, aber um so brisanteren Befreiungsschläge wären weder die Oswald-Filme ES WERDE LICHT!, PROSTITUTION, DAS TAGEBUCH EINER VERLORENEN oder ANDERS ALS DIE ANDERN noch jene Flut von »Sittenfilmen« denkbar gewesen, die ab 1918 die Kinos überschwemmte und in der kurzen zensurlosen Periode bis Mai 1920 nach Auffassung konservativer Zeitungen einer »Kultur der brutalen Schamlosigkeiten« zum Durchbruch verhalf.

Eine umfangreiche, genüßlich kompilierte Liste dieser zumeist verschollenen Streifen hat Friedrich von Zglinicki zusammengestellt, schön alphabetisch; sie verführt zum wahllosen Hineingreifen: AM RANDE DES SUMPFES, BRAUTNACHT IM WALDE, DER SCHREI NACH DEM WEIBE, MENSCHLICHE HYÄNEN, SÜNDIGES BLUT -- Titel, die der Werbepsychologie der Filmindustrie folgenreiche Pionierdienste leisteten. Sprachwillkür und Sprachphantasie, die sich hier in Titeln austoben durften, sollten nicht verkannt, nicht vorschnell belächelt werden; sie bildeten erstaunliche Komposita (ASPHALTSCHMETTERLINGE), sie hatten einen Hang zur prickelnden Alliteration (DER KELCH DER KEUSCHHEIT; SAAL DER SIEBEN SÜNDEN) und zu extremer Bildhaftigkeit (FRAUEN, DIE DER ABGRUND VERSCHLINGT, EINE FRAUENSCHÖNHEIT UNTER DEM SEZIERMESSER), sie bevorzugten grelle manieristische Metaphorik (AM WEIBE ZERSCHELLT; IN DEN KRALLEN DER SÜNDE), sie scheuten keineswegs mittlere Traktatlänge (WARUM DAS WEIB AM MANNE UND DER MANN AM WEIBE LEIDET) und trieben den Ernst gewichtiger Substantive, ob freiwillig oder unfreiwillig, in die absurdeste Komik (TRAGÖDIE EINES EUROPÄISCHEN RASSEWEIBES).

Die Philologie hat, soweit zu sehen ist, die auf Jahrzehnte hinaus kulturprägenden Sprachleistungen der Filmtitel-Erfinder in der zensurlosen Ära noch nicht ihrer Aufmerksamkeit gewürdigt -- dabei gälte es, in ihnen ein Netz faszinierender Querverbindungen zwischen dem verdrängten und nun hervorquellenden Traummaterial der Epoche und den unklaren Bewältigungsmustern, zwischen den elementaren Gefühlen und ihren Ausbruchsstrategien aufzudecken. Kein Literatur-Exeget hat sich je analytisch mit dem angewandten Expressionismus zeitgenössischer Werbetexte und der aphrodisischen Sprachgewalt ihrer Bilder beschäftigt: »Wie das sprüht, schwellt und aufflammt vor immer neu aufgepeitschten Süchten, äußersten Reizen! Betäubendes Gift, aussaugende Gier, trunkene Schönheitskultur, und über dem allen die höhnisch thronende Kälte der maßlos gesteigerten Ich-Sucht. Ein zitternder Gluthauch fegt durch die Schilderung der ergreifenden Filmbilder -- aber freilich auch ein empörter Warnungsruf an jene verzerrte Welt, für die der Film mit virtuoser Kühnheit ein grelles Spiegelbild schuf!« (zitiert nach Zglinicki).

Oswald für den »Orkan« dieser Filmschwemme verantwortlich zu machen, ergibt so wenig Sinn wie der Versuch, die ideologischen Schlachten von 1919/20 noch einmal zu schlagen, mit Curt Moreck und Konrad Lange die Tendenz der »Sittenfilme« zur moralischen »Enthemmung« und kulturellen »Verwahrlosung« zu geißeln -- oder mit Heinrich Fraenkel oder Walter Kaul eine Ehrenrettung Oswalds und des von der »Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten« unterstützten »hygienischen« Volksaufklärungsfilms zu initiieren -- eine Ehrenrettung, die angesichts des beachtlichen medizinischen Beratungspersonals (Magnus Hirschfeld, Iwan Bloch) ohnehin überflüssig wäre, die Ärzte zudem in eine Sphäre übernatürlicher, jeder Kritik entzogener Unfehlbarkeit entrücken und jene Filmproduzenten, die auf ärztlichen Beistand verzichteten, ungerechterweise dem moralischen Sumpf zuordnen würde. Oswalds Filme einerseits, zeitgenössische Sensationen wie DAS GIFT IM WEIBE oder IRRGARTEN DER LEIDENSCHAFTEN andererseits waren Sumpfblüten aus demselben blasig quirlenden, demokratisch-anarchisch aufgewühlten Morast der revolutionären Nachkriegszeit.

Nicht nur Spartakus und die revolutionären Arbeiter- und Soldatenräte, auch die »Novembergruppe bildender Künstler« und der »Rat geistiger Arbeiter«, das Theater Leopold Jessners und die Literatenzirkel um Franz Pfemferts anarchistische Zeitschrift »Die Aktion« -- und nicht nur die Hochkultur der gebildeten Stände, auch das den Fesseln der Kriegsentbehrungen und - beschränkungen entronnene Unterhaltungs- und Vergnügungsgewerbe, eine neue, mit der Liebe zum Schrägen verbündete Lebenslust, die Umwälzung der Mode und eine allseits propagierte (wenn auch weniger allseitig praktizierte) Liberalisierung der Beziehung zwischen den Geschlechtern wirkten mit am überfälligen Einsturz einer dynastisch geprägten, autoritär verkalkten, körper- und sinnenfeindlichen Philisterkultur wilhelminischen Zuschnitts, die schon vor 1910 nicht nur von der intellektuellen Avantgarde massiv angefochten worden war. Die Filme Oswalds hatten ebenso wie die mit marktschreierischem Reklameaufwand auf den Markt gebrachten »Sittenfilme« ihren Anteil an einer gewiß oberflächlichen, aber an ihrer Oberfläche grell und suggestiv schillernden Demokratisierung des großstädtischen Alltags und an einer nicht nur scheinhaften Egalisierung der gesellschaftlichen Schichten im urbanen Milieu -- zumindest Berlins.

Erotisch stimulierte Schaulust und Neugier für die Sinnlichkeit des Sexuellen, nach Jahrhunderten der Tabuisierung und Verdrängung öffentlich rehabilitiert und mit öffentlich gezeigten Bildern beliefert, erwiesen sich als menschenverbindende und klassenübergreifende Phänomene und wurden so zu einem Element der Demokratisierung des öffentlichen Lebens und des kulturellen Diskurses in der jungen Republik. Wenn Oswalds Aufklärungsfilme, wie Kaul schreibt, »als Tribüne der Zeit, als Tendenz und Plakat und auch als Kunst« wirksam wurden, so verdankten sie dies erst in zweiter Linie ihrer vordergründig »aufklärerischen«, volkspädagogischen und sexualpolitischen »Tendenz«; in erster Linie waren sie Tribünen und plakative Indikatoren eines urbanen Demokratismus in Sachen Liebe und Sexualität und insoweit genuin aufklärerisch im Sinne des bürgerlichen Emanzipationsgedankens, ein Element im »Strukturwandel der bürgerlichen Öffentlichkeit« (Habermas).

Gerade diese Funktion aber teilten sie mit der zeitgenössischen Pornografie, mit den »Sittenfilmen« Georg Jacobys, Max Macks, Richard Eichbergs und zahlloser weniger prominenter, heute längst vergessener Regisseure, die überdies -- wahrscheinlich in stärkerem Maße als Oswalds Filme -- ein proletarisches Publikum ansprachen und dessen erotische Erwartungen und Tagträume in den Diskurs der Bilder, in die synthetischen Mischungen der republikanischen Alltagskultur einfließen ließen. Schnell war -- und ist bis heute -- die Kulturkritik mit dem Vorwurf der »kommerziellen Verlogenheit« zur Stelle, übersehend, daß Kommerzialismus wesenhaft, nämlich im Interesse des Geschäfts, dahin tendiert, zunächst einmal Schranken einzureißen, tabuisierte und mystifizierte Terrains zu enttabuisieren und zu demystifizieren, eine möglichst große Zahl von Menschen, unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit, zu Konsumenten zu machen und ihre Bedürfnisse insoweit demokratisch zu verwalten. Mit Lügen (Vorspiegelungen, uneingelösten Verheißungen) arbeitet der Kommerz dort, wo er auf tradierte Verlogenheiten (Verinnerlichungen, nach wie vor intakte Verbotsschranken) Rücksicht nehmen muß -- seine revolutionäre Qualität zeigt sich, wo er, stets im wohlerwogenen Profitinteresse, gesetzte Normen erfolgreich durchbricht und verdrängten Wünschen ebenso wie einem neuen Denken freie Bahn verschafft. Ihren Tribut an die Lüge zahlten Oswald und die Spekulanten der »Sittenfilme« gleichermaßen: ersterer, indem er einen aufklärerischen Radikalismus sexualpolitisch sublimieren und, etwa in ANDERS ALS DIE ANDERN, in einer Ästhetik der indirekten Gebärde und kammerspielhaften Dezenz »veredeln« mußte -- letztere, indem sie mit ihren Filmtiteln, Plakaten und Werbetexten mehr versprachen als sie in ihren Bildern zu halten bereit oder (der Zensurfreiheit zum Trotz) in der Lage waren.

Revolution und Krieg hatten, in der Einstellung zum Sexuellen, eine Umwertung der Werte, die sich seit den Anfängen der Industrialisierung vorbereitet hatte, mit brachialer Gewalt vollendet. In der kämpfenden Truppe des Ersten Weltkriegs war das Fronterlebnis -- verbunden mit langer Enthaltsamkeit einerseits, der drakonischen Organisation der Triebbefriedigung mittels Mannschafts- und Offiziersbordellen andererseits -- Ursache einer zuvor unvorstellbaren Entmenschlichung des Eros. In allen Jahrhunderten hatten die Kriege auch ihre »Sittengeschichte« -- die des ersten Massenvernichtungskrieges ist jedoch wie keine andere in Dokumenten, Dossiers, Erlebnisberichten, Romanen, Briefen, Karikaturen und Fotografien belegt und publiziert, und ihre Veröffentlichung hat wesentlich zur Unterminierung jenes im wilhelminischen Bürgertum noch immer gültigen ideologischen Gefüges aus Patriotismus, Prüderie, Verdrängung und Sex-Phobie beigetragen, das als dichter Verhau selbstverordneter Lügen den Blick auf die Wirklichkeit versperrt hatte.

Der Krieg hatte den Körper des Mannes, der in jeder Sekunde von einer Granate zerfetzt werden konnte, auch in der Liebe auf seine biologische Materialität, auf Drill und Gewalt reduziert. »Die Mannschaftsbordelle erregten überall, wo sie sich befanden, unliebsames Aufsehen durch die lange Reihe der vor der Tür schlangestehenden Soldaten. Diese Polonaisen wurden gewissermaßen zu einer ständigen und charakteristischen Einrichtung des Massenkrieges« -- so zu lesen in einer auf den Forschungen Magnus Hirschfelds basierenden »Sittengeschichte des Ersten Weltkrieges«. Und: »Wenn die Scham überflüssig geworden ist und der Geist im Wahnsinn der Schlachten getötet wurde, bleibt der Geschlechtstrieb reine Anatomie, die nicht einmal durch die Wollust geadelt wird.«

Daß im drillmäßigen Vollzug des Geschlechtsakts die Wollust abhanden kam, gehört zu den tragischen Folgen des »Völkerringens« für die erotische Kultur der Nachkriegsjahre, während das ramponierte Bild des militärischen Vorgesetzten, der sich nicht scheute, auch vor den Augen seiner Untergebenen als Triebapparat mit »perversen« Neigungen zu agieren, unbedingt den progressiven Resultaten des Krieges zuzuzählen ist: Erfahrungen, die sich unmittelbar in den höhnischen Dekompositionen niederschlugen, in denen George Grosz und Otto Dix mit der Sinnlichkeit der herrschenden Klasse abrechneten -- und die darüber hinaus die von der konservativen Kulturkritik gebrandmarkten »Schamlosigkeiten« und »Geschmacksverirrungen« im erotischen Betrieb der frühen Nachkriegsjahre begünstigen sollten.

Bernd Aldor und Hugo Flink in ES WERDE LICHT (1916/17)

Ungleichzeitigkeiten bestimmten das kulturelle Gesamtbild der Jahre nach 1918 wie auch besonders die Auseinandersetzung mit sexuellen und sexualpolitischen Fragen und mit den sexuellen Minderheiten. Bedenkt man, daß ein Theaterstück wie Ibsens »Gespenster« schon seit genau drei Jahrzehnten auf den deutschen Spielplänen war, so mutet zwar nicht der thematische Ehrgeiz, auch nicht das gesellschaftliche Engagement, wohl aber die ästhetische Gestalt der oswaldschen Aufklärungsfilme zaghaft an: Sie verschleiert eher und zieht sich in die Verbalisierungen der Zwischentitel zurück; sie überstäubt den Geruch des Anrüchigen mit dem Parfüm des Melodrams. Schlußfolgerungen, die Kinematografie sei nun einmal »strukturell reaktionär«, mögen sich aufdrängen, suggerieren jedoch eine unangemessene Zwangsläufigkeit. Allerdings: auch gegenüber der in der zeitgenössischen Publizistik ausgetragenen Debatte fallen Oswalds Filme zurück, während andererseits die Drastik so mancher »Sittenfilme« zumindest den Sodom-und-Gomorrha-Visionen der Moralhüter das gewünschte Material lieferte und insoweit auf der Höhe der Zeit schien.

Eine Durchsicht der ersten beiden Jahrgänge der Zeitschrift »Das Tage-Buch«, des wohl lebendigsten Seismogramms der jungen Republik, stellt den Leser mitten in die Auseinandersetzungen von 1920/21 über »Sport-Exhibitionismus« und »Scheidungswahnsinn«, über die »Frage des Entfruchtungsrechtes« und das Recht der sexuellen Minderheiten, über Kokainismus, die Perversionen des deutschen Mannes, die »Philosophie des Fox-Trott« und die »Verhurung Berlins«. Nicht, daß alle Beiträge gleichermaßen vom Geist des Fortschritts inspiriert gewesen wären -- klagte doch sogar der Herausgeber, Stefan Großmann, in seinem Essay »Das junge Mädchen aus Berlin W.« darüber, daß »die Erziehung zur erotischen Bewußtheit« die deutsche Jungfrau »in schädliches Spintisieren getrieben« habe; die »Wedekinderei« habe nicht nur eine »kindische Verklärung des Dirnentums« hervorgebracht, »sondern auch eine in ihrer schematischen Starrheit abgeschmackte Entwertung der Jungfräulichkeit«. Das Interessante an diesem Artikel von 1920 ist, daß er zum einen auf energischen Widerspruch stieß, zum andern aber wenig später von einem weiteren Beiträger an missionarischem Eifer weit überboten wurde, so daß Großmann plötzlich Veranlassung sah, sich auf die andere Seite zu schlagen.

Den Widerspruch meldete Karl Otto Graetz an, der sich im »Zusammenbruch aller Weltanschauungen« zur »erotischen Freude« bekannte und sich »das einzig Positive«, den lustvoll genossenen Beischlaf, nicht »durch langweilige Moralrednerei nehmen lassen« wollte. Kurz darauf schoß Thomas Wehrlin mit seiner Philippika über die »Verhurung Berlins«, den »wüsten Nihilismus« in sexuellen Dingen, die »innere Entwertung des heiligen Aktes«, über »faulige Genußsucht« und das Zeitalter »hoffnungslosester Degeneration« weit über das Ziel der im »Tage-Buch« so subtil und polyphon geübten Kulturkritik hinaus, so daß Großmann in seiner Erwiderung, frühere Positionen korrigierend, zu einer »Verteidigung der Weiber« aufrufen mußte: »Alle diese schwarzen Dämoninnen sind zu Hause sehr vernünftig überlegende Geschöpfe und deshalb bürgerlicher und gezähmter, als sie auf den ersten Blick aussehen.« Auch die blonden Lulus seien zu erlösen, »wenn nur die Männer stark wären, stark genug, sie aus dem parfümierten Nebel herauszutragen.« Die Korruption der Weiber sei die Folge des Verfalls der Männer. Mit dieser These traf Großmann in der Tat einen Nerv der Zeit und berührte das geheime Zentrum der gesamten Debatte.

Asta Nielsen und Conrad Veidt in DER REIGEN (1920)

Der Untergang des Mannes -- und die Schwäche, die Dummheit, die Zerrissenheit, die nur notdürftig kaschierte Debilität der Männer -- dieses Thema zieht sich durch viele Beiträge der ersten »Tage-Buch«-Jahrgänge. Das Hauptkennzeichen des modernen Europäers sei sein erotischer Dilettantismus -- so Rudolf von Delius: »Er lügt seinen Geschlechtstrieb um und behauptet, für reine Schönheit der Seele zu schwärmen.« H. von Kahlenberg (i.e. Helene Keßler) machte in einem programmatischen Beitrag von 1921 den Kern der nationalen Katastrophe »im Verhältnis der Geschlechter zueinander, in der Beziehung vom deutschen Manne zur deutschen Frau« aus, letztlich aber in der »Sklavenmoral« des deutschen Subalternen: »Das ganz ausschließlich auf Leistung gestellte deutsche Reich folgte einer einzigen Richtschnur, der Anbetung des Erfolges, der Macht. Beides im allerplumpsten, handgreiflichsten Sinne, wo Erfolg Reichtum -- Bargeld Macht, das militärische Übergewicht die brutale Gewalt darstellte.« In einer solchen von männlichen Machtphantasien beherrschten Gesellschaft werde auch die Ehe dem Disziplinarrecht des Beamtentums unterworfen und letztlich als ein »militärisches Verhältnis« zwischen den Geschlechtern aufgefaßt -- so Martin Beradt in seinem Aufsatz über »Scheidungswahnsinn«.

Die Schwäche, die erotische Inkompetenz, die menschlich-gesellschaftliche Unreife des Mannes -- das ist fürwahr ein Thema, das Richard Oswald nicht fremd ist; »hintergründig« bildet es sich, wie das verdeckte Motiv auf doppelt belichteten Fotografien, in den Tiefenräumen vieler seiner Filme ab. Ist nicht schon der romantische Held in HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN -- eben der Dichter Hoffmann, der in jeder Liebesbegegnung nur die Strafe für eine frühe Verfehlung, in jeder Frau einen Racheengel wähnt -- ein neurasthenischer, von den Furien des Masochismus gepeinigter, zum Leben wenig begabter Mensch? Ist nicht Conrad Veidt als Erik Norrensen in DIDA IBSENS GESCHICHTE viel zu willensschwach, um der Liebe einer leidenschaftlichen Frau gewachsen zu sein und anders zu enden, als sich aus der Welt zu schießen (von Werner Krauß als Philipp Galen ganz abgesehen, der seinen »Tropenkoller«, also seinen Ich- und Realitätsverlust, in sadistischen Quälereien kompensiert)?

Überhaupt Conrad Veidt! »Stellenweise reizend in seiner zweideutigen Grazie, seiner depravierten Eleganz, seiner knabenhaft-liebenswürdigen Keckheit« -- so charakterisiert ihn Willy Haas in seiner Rezension des Oswald-Films DIE LIEBSCHAFTEN DES HEKTOR DALMORE, und er fragt sich, »ob hier nicht Besseres, Tieferes, Gestaltetes herauszuholen wäre -- nicht aus der Rolle, sondern aus Conrad Veidt«. Nur: Hektor Dalmore entspricht eben jenem unsteten, in der Substanz maroden, seiner selbst unsicheren und seelisch amorphen Typus Mann, den Veidt -- mal mit mehr, mal mit weniger dämonischem Phosphor -- in zahlreichen Rollen kongenial verkörpert: filmische Stilisierungen, auch Überzeichnungen jener Eigenschaften, die H. von Kahlenberg im »Tage-Buch« als eine »Erkrankung gesunder Sinnlichkeit« diagnostiziert, als eine auch gerade in den oberen Gesellschaftsschichten anzutreffende »erschreckende und abstoßende Formlosigkeit«: Symptome dafür, »daß der Zusammenbruch auch den völligen Nerven- und Haltungszusammenbruch bis in die höchsten und allerhöchsten Stellen nach sich zog.«

Ob Conrad Veidt in ANDERS ALS DIE ANDERN an seiner homosexuellen Veranlagung oder in DÜRFEN WIR SCHWEIGEN? an der Syphilis zugrunde geht: hier wie dort indiziert weniger sein Sterben als sein sentimentalisches Schwanken zwischen Tod und Leben, Selbstmitleid und Selbsthaß, genialischer Attitüde und Weinerlichkeit den Bankrott des deutschen Mannes als eines selbstbewußten, liebesfähigen gesellschaftlichen Subjekts. »Wo vorher poltrige Renommage und Drohung an der Tagesordnung gewesen war, konnte nachher nur Kleinmut, Klage und ohnmächtige Wut oder sogar kriecherische Unterwürfigkeit eintreten.« Die fatalen politischen Folgen psychischer Instabilität demonstriert der jugendliche Attentäter in FEME, dessen Ich-Schwäche in einem verschwommenen Idealismus Orientierung sucht; nicht von ungefähr degeneriert am Ende seine »Läuterung«, eingefädelt und angeleitet vom Chefarzt einer Nervenklinik, zur Unterwerfung unter die Justiz und die bürgerliche Obrigkeit.

Oswalds neurasthenische, stets am Rande der inneren Zerrüttung lavierende Mannsbilder, gleichermaßen Produkte des Krieges und einer gescheiterten Revolution, reflektieren das Schicksal deutscher Männlichkeit in jener abgründigen Ära zwischen Nietzsche und Hitler, in der den Deutschen der Kompaß für ihre geschichtliche Entwicklung, für ihre Position im internationalen Kräftespiel und ihrer kulturellen Fähigkeiten abhanden kam. In dieser seismografisch-hellseherischen Qualität liegt ein weitaus radikalerer aufklärerischer Ansatz als sich oberflächlich in der Agitationsgeste der »Aufklärungsfilme« zu erkennen gibt. Und daß Oswald gesellschaftliche Defekte und Defizite, die sich bald als Unfähigkeit zur Politik herausstellen und in eine neue Katastrophe münden werden, gleichsam mikroskopisch im sexuellen Mißlingen, im Verhältnis der Geschlechter zueinander (und in dem des Mannes zu sich selbst) ausfindig machte, läßt seine Filme gleichermaßen kontemporär und aktuell im Sinne auch heute noch keineswegs überwundener Blockierungen erscheinen.

Wahrscheinlich ist es kein Zufall, daß Oswald der skandalumwitterten Nackttänzerin Anita Berber nicht nur zum Filmdebüt verholfen, sondern gerade ihr -- nicht etwa der blassen Schönheit Liane Haid oder der hoheitsvollen Erna Morena -- die Rolle des Gegenpols zu seinen dubiosen Männergestalten zugedacht hat. Als Dida Ibsen, die um ihr Kind kämpft und dabei lernt, daß sie diesen Kampf gegen die Männer kämpfen muß, entwickelt sie eine Ausstrahlung, deren Eros in Opferbereitschaft und Selbstvertrauen begründet ist, in seelischen Kräften, die sich zu guter Letzt gegen die bürgerlichen Neurosen behaupten können. Und als Else Sivers in ANDERS ALS DIE ANDERN wächst sie aus dem bürgerlichen Milieu, dem sie verhaftet ist, heraus -- und aus der Rolle der Vermittlerin in die der vorbehaltlos Liebenden. In der Unbedingtheit ihrer Gefühle findet sie die notwendige Stärke, um die tödlichen Normen der Wohlanständigkeit, das bürgerliche Regelmaß und Mittelmaß offen anzugreifen und der Heuchelei zu überführen. Gegen die Gewalttätigkeit des Milieus, aber auch gegen die theatralische Selbstverliebtheit und Todessehnsucht des Gegen-Milieus (der bürgerlichen Homosexuellen) steht sie für Toleranz und Zuneigung ein, für eine Solidarität der Zärtlichkeit -- gegen den Terrorismus im Kampf der Geschlechter.

Die sexuelle Triebstruktur, die nach 1918 von einer verwegen wuchernden Spekulation als brennendes Thema entdeckte wurde, erwies sich unversehens als jenes gesellschaftliche Kernproblem, das die Spekulanten keineswegs im Sinn hatten und auch die sexualpolitischen Aufklärer nur verschwommen ahnten: als springender Punkt im seelischen Haushalt des autoritären Charakters. Das Weib war (noch immer) die Herausforderung, an der, jedenfalls in Deutschland, die (gesellschaftliche) Individuation des Mannes vorläufig gescheitert war.


Zitierte Literatur:

  • Walter Kaul: Richard Oswald, die Aufklärungswelle vor 50 Jahren -- und mehr. In: Walter Kaul, Robert G. Scheuer (Red.): Richard Oswald. Berlin/West Deutsche Kinemathek 1970.
  • Friedrich von Zglinicki: Der Weg des Films. Berlin/West: Rembrandt 1956, S. 560-572.
  • Magnus Hirschfeld, Andreas Gaspar (Hg.): Sittengeschichte des Ersten Weltkrieges. Nachdruck der 2. neubearbeiteten Auflage. Hanau: Müller & Kiepenheuer (1981).
  • Stefan Großmann: Das junge Mädchen aus Berlin W. In: Das Tage-Buch, Nr. 25, 4.7.1920.
  • Karl Otto Graetz: Erotische Weltanschauung. In: Das Tage-Buch, Nr. 28, 24.7.1920.
  • Rudolf von Delius: Den Liebesdilettanten. In: Das Tage-Buch, Nr. 40, 16.10.1920.
  • Thomas Wehrlin: Die Verhurung Berlins. In: Das Tage-Buch, Nr. 43, 6.11.1920.
  • Stefan Großmann: Verteidigung der Weiber. In: Das Tage-Buch, Nr. 44, 13.11.1920.
  • H. von Kahlenberg: Der deutsche Mann. In: Das Tage-Buch, Nr. 1, 8.1.1921. (Hans von Kahlenberg ist das Pseudonym der Schriftstellerin Helene Keßler, geb. von Monbart; u.a. »Der enigmatische Mann«, 1909).
  • Martin Beradt: Scheidungswahnsinn. In: Das Tage-Buch, Nr. 32, 13.8.1921.
  • Willy Haas: Die Liebschaften des Hektor Dalmore. In: Film-Kurier, Nr. 46, 23.2.1921.


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