Reihe CineGraph Buch

Erika Wottrich(Red.)
M wie Nebenzahl

Nero - Filmproduktion zwischen
Europa und Hollywood.

Harold Nebenzahl
Film, Vater, Grossvater

 


Harold Nebezahl
FILM, VATER, GROSSVATER


Im Filmgewerbe aufzuwachsen war immer irgendwie "Überlebensgroß".
In Berlin wohnten wir in der Rauchstraße, im damaligen Diplomatenviertel. 
Und tatsächlich waren in unserer Nachbarschaft viele Botschaften und ausländische
Vertretungen. Bei einem normalen Nachbarn könnte man sich etwas Zucker ausleihen. Aber unser Nachbar war der päpstliche Nuntius in Deutschland, Kardinal Pacelli, der spätere Papst Pius XII. Auf dem Weg zur Schule sah ich ihn oft in seinem Garten an den Rosen schnüffeln. Er winkte mir nie zu.
Später bekam er den Beinamen "Papst der Deutschen". Zu Recht.

Ein bedeutend netterer Zeitgenosse war Hermann Göring, die Nummer 2 in
Hitlers Triumvirat und Chef der Luftwaffe. Ich begegnete ihm in der großen
Empfangshalle des Hotels Lido in Venedig. Mein Vater drehte Princesse Tarakanova
mit dem Regisseur Fedor Ozep, und Göring und sein Stab besuchten Graf Ciano in Venedig. Meine Mutter befahl mir, oben auf dem Zimmer zu bleiben, eine offenkundige Unmöglichkeit, wenn sich unten die unglaublichste Ansammlung von Operetten-Uniformen tummelte. Trotz meiner jungen Jahre war ich bereits höchst modebewusst und entschied, dass die italienischen Offiziere in Weiß eleganter waren als ihre deutschen Gegenspieler, doch Göring übertraf sie alle. 
Ich schlenderte ungestört zwischen den Uniformen umher. Ich glaube, damals gab es kaum Sicherheitsvorkehrungen, und wenn, wer wollte so netten Kerlen etwas Übles. Als es mir zu langweilig wurde, wandte ich mich den Aufzügen zu, um wieder zu meiner Mutter zu fahren. 
Unbeabsichtigt betrat ich denselben Lift wie Göring und seine Begleitung. Sein Bauchumfang ließ nicht viel Platz übrig, und so stand ich Zeh an Zeh mit ihm. Ich schaute zu ihm empor und lächelte. Er streichelte mir über den Kopf und lächelte zurück. Ich stieg zuerst aus. Ich war von der Geschichte gestreichelt worden.
Geschichte war nie weit entfernt. Während der Dreharbeiten zu Westfront
1918 mit G. W. Pabst wies uns der Requisiteur darauf hin, wir hätten vergessen,
dass laut Versailler Vertrag Maschinengewehre verboten seien, und deshalb
nirgendwo erhältlich. Was sollten wir tun? Ein Pragmatiker meinte: "Warum
leihen wir sie uns nicht von der Nazi-Partei?" Und der ebenso pragmatische
Nazi tat es. Eine weitere Kindheitserinnerung politischer Natur betrifft Fritz
Lang, der für meinen Vater M und Das Testament des Dr. Mabuse inszenierte.
Ich betone "politischer Natur" nur, weil er ein persönlicher Freund von Dr. Goebbels war. Das erste Mal traf ich den großen Meister bei der Arbeit im Atelier. 
Er verzögerte den Dreh in einer Unterweltkneipe mit einer Ansammlung von Gaunern und Prostituierten um eine halbe Stunde. Er war unzufrieden mit einem großen Aschenbecher, den der Requisiteur mit Asche und Zigarettenstummeln
gefüllt hatte. Mit Hilfe einer dicken Zigarre schuf Lang schließlich einen Berg von Asche, der seinen Erwartungen entsprach.
Für die Dreharbeiten zu Das Testament des Dr. Mabuse war in einem Vorort
Berlins eine verlassene Fabrik gefunden worden. Teil der Fabrik war ein hoch
aufragender Schornstein aus roten Klinkern, den Lang sprengen lassen wollte,
damit er in einer Steinkaskade in sich zusammenfiel. In jenen Tagen vor Erfindung
des Walkie-Talkie war mit dem Sprengmeister vereinbart, er solle die Ladung zünden, wenn Lang sein Taschentuch fallen ließ. Als nun Lang gestenreich den Kameraleuten das Arrangement erläuterte, sah der Pyrotechniker das Taschentuch in Langs Hand und - Sie haben es erraten - jagte den Schornstein unwiederbringlich in die Luft.
Ohne dass ich Langs Genie bezweifeln möchte, muss ich doch betonen, das
Netteste an ihm war seine damalige Frau Thea von Harbou. Außer einer bedeutenden
Drehbuchautorin war sie auch eine reizende Person. Es gibt böse Zungen, die behaupten, sie sei Nazi gewesen, doch schlimmstenfalls war sie eine nationalistische Deutsche. Sie vergaß niemals meinen Geburtstag und brachte mir bei ihren Besuchen in unserem Haus immer großzügige und vor allem wohl überlegte Geschenke mit. Einmal schenkte sie mir die gesammelten Werke Karl Mays. Wie viele Bände waren es? 35? 48? Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nur an die blauen Rücken, die mein Bücherbord füllten. An einem anderen Geburtstag kam sie mit Speisewagen und Schlafwagen für die Modelleisenbahn.
Man konnte die Dächer abnehmen und die kleinen gedeckten Tische
sehen, die Kabinen mit den Betten, korrekt bis ins kleinste Detail. Als alter
Eisenbahnfan wünsche ich mir, ich hätte sie heute noch.

Meine Erinnerungen an G. W. Pabst sind bedeutend weniger dramatisch. 
Er und seine Frau waren enge Freunde der Familie. Wir fuhren zusammen in die
Ferien, und ich erinnere mich ihrer mit herzlicher Zuneigung.
Von Kindesbeinen an beteiligte ich mich an Massenszenen. Es war in Paris unter
der Regie meines Onkels Robert Siodmak, dass ich zum Komparsen aufstieg.
Ich spielte einen Hotelpagen, meine Partner waren Max Dearly und Conchita
Montenegro. Ich musste in den Umkleidesaal der Komparsen gehen, um meinen
Anzug zu wechseln. Zum ersten Mal betrat ich die reale Welt. Diese Räume
waren kahl und heiß und stanken nach den Ausdünstungen der Generationen
von Komparsen. Es lagen Welten zwischen diesen und den Garderoben der
Stars mit ihren Blumenbouquets und eleganten Einrichtungen.

Als wir Mitte der 30er Jahre in Paris lebten, erschien plötzlich Herr Polnow, der
Chauffeur meines Vaters (ja, wir hatten Chauffeure, damals) aus Berlin. 
Er war Veteran des Ersten Weltkriegs und engagierter Sozialist, der es unter dem
neuen Regime in Deutschland nicht aushielt. Irgendwie gelang es meinem Vater,
ihm die notwendige Arbeitserlaubnis zu besorgen. Herr Polnow entdeckte
bald einen Genossen, dem ein Café um die Ecke gehörte und der ebenfalls am
Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte, auf der französischen Seite natürlich.
Vermutlich durch ihn verwandelte sich Herr Polnow in eine Art Pariser. Er war
eine Zeitlang Chauffeur in Paris, ehe er nach Berlin zurückkehrte. 
Ihm folgte Herr E., der ebenfalls unerwartet in Paris aufgetaucht war. Er war der Diener
meines Vaters (ja, wir hatten Diener, damals). Er hatte sich auch vorgestellt,
er würde lieber in Paris leben, speziell als Angestellter meines Vaters. Jedoch
gelang es dem armen Kerl nicht, eine Arbeitserlaubnis zu erhalten.
Mein Vater hatte Herrn E. sehr gern gemocht. Eines Sommertags in Berlin war
mein Vater auf dem Weg zum Bahnhof, um meine Mutter und mich in den Ferien
in Südfrankreich zu besuchen. Er verspätete sich und verpasste den Zug.
Er kehrte in die Rauchstraße zurück und wollte gerade die Haustür öffnen,
als Herr E. heraustrat, von Kopf bis Fuß angetan mit der massgeschneiderten
Kleidung meines Vaters. Meine Mutter meinte: "Du hast ihn hoffentlich rausgeschmissen!" Mein Vater sagte nur: "Er hatte genau meine Größe und sah richtig
fesch aus. Ich mag ihn, und ich bin sicher, es wird nie wieder passieren."

In den frühen 60er Jahren besuchte ich mit meiner Frau Berlin. Es war das erste
Mal für sie. Auf dem Weg zum Hotel kamen wir durch den Tiergarten. 
Ich sagte zum Taxifahrer: "Würden Sie uns bitte in die Rauchstraße fahren." 
Bald waren wir im alten Diplomatenviertel, doch außer ein paar Ruinen war nicht viel übrig geblieben. Mit preußischer Gründlichkeit hatte man die alten Hausnummern
auf die Straße gemalt. Der Fahrer hielt vor Nummer 8. Es gab ein paar Trümmer,
und das alte Eisentor stand noch, glaube ich. Ich wandte mich zu meiner
Frau und sagte auf Englisch: "That is where we lived." Der Fahrer sagte zu mir
auf Deutsch: "Nee, da hat der Nebenzahl gewohnt." Es stellte sich heraus, dass
er Studiofahrer gewesen war und meinen Vater recht gut kannte. Das erklärte
auch die Unhöflichkeit, mit der er mich als vermeintlichen Eindringling behandelt
hatte. Ich fragte ihn sofort: "Haben Sie Polnow gekannt?" Es ergab sich, dass es so war und dass dieser jetzt im Schoße seiner Familie im Ostsektor lebte.

Der Leser dieser Zeilen mag sich fragen: Hat er wirklich ein solches Gedächtnis?
Damals war er ein Kind von vielleicht fünf oder zehn Jahren. Das stimmt,
aber ich unterscheide mich in keiner Weise von einem Bäckerssohn, der in der
Backstube seines Vaters aufgewachsen ist. Schon in frühem Alter kann er die
verschiedenen Sorten Mehl unterscheiden, Zucker, Gewürze, Zutaten. Und sobald
er das kann, trägt er die Bleche mit Brötchen vom Ofen in den Laden. 
Auch ich verstand, dass das Büro meines Vaters und die Zeit, die er im Atelier verbrachte, kein Spaß waren, kein Spielplatz. Das war unsere Bäckerei, und dadurch
kam das Brot auf unseren Tisch. Das war der Ort, wo mein Vater arbeitete
und etwas schuf, dort arbeitete mein Onkel Leon - und in späteren Jahren
überwachte dort mein Großvater die Buchhaltung; ebenso Herr Wolf, der
mit meines Vaters Schwester Ruth verheiratet war. 

Und auch die vielen Mitarbeiter, die Produktionsleiter, Willy Loewenberg und Georg von Horsetsky, und die Sekretärinnen gehörten zu diesem Team über all die Jahre.
Es war mein Großvater Henry, der mich zum ersten Mal ins Kino mitnahm. 
Ich war vielleicht fünf oder - - egal, ich hatte noch kurze Hosen an und war völlig
unvorbereitet auf das, was ich zu sehen bekam. Dies Spektakel, in dem merkwürdig gekleidete Männer mit Schwertern fochten, offensichtlich um eine Frau
in einem Turm zu retten, versetzte mich in einen Schwebezustand zwischen
Realität und Fantasie. Später habe ich rekonstruiert, dass es sich womöglich
um einen Film mit Douglas Fairbanks gehandelt hatte. Anschließend lud mich
mein Großvater zu einem Eis ein und erklärte mir die technischen Hintergründe dessen, was wir gesehen hatten. Mich hatte der Kinovirus gepackt - ein Leben lang.
Ich verbrachte viele Stunden im Büro meines Großvaters. Er gab den Anstoß
für meine Briefmarkensammlung, lehrte mich die Namen aller Länder der
Erde, ihre Hauptstädte und Flaggen. Er konnte perfekt Deutsch und Englisch,
besaß die Handschrift eines Kalligraphen und konnte Fraktur-, lateinische
und hebräische Schriftzeichen schöner als gedruckt schreiben. 

Einmal kam ein Mann ins Büro und unterhielt sich mit meinem Großvater über eine
Provinzstadt in Ost-Europa. Der Mann behauptete, er sei sich über die Örtlichkeit
vollkommen sicher, doch mein Großvater bestand darauf, dass der Ort
einige Werst weiter östlich liege. Sie schlugen einen Atlas auf und schauten
nach. Der andere hatte Recht. Mein Großvater schaute sich den Punkt genau
an und sagte dann mit Bestimmtheit: "Druckfehler!"
In den Ferien oder am Wochenende ließ mich mein Vater in einer Ecke seines
Büros sitzen und all den Gesprächen und Verhandlungen lauschen. Niemand
hat sich jemals beschwert. Ich erinnere mich jener magischen Tage nur noch
selten. All jener engagierten Menschen, die ihre Arbeit liebten, weil sie den
Film liebten. Heute sind sie tot, die meisten wurden in alle Weltecken zerstreut,
einige haben ein schreckliches Ende gefunden. Doch ihre Filme leben weiter.
Die großen Klassiker der Nero-Film sind noch lebendig, die anderen, vielleicht
weniger erfolgreichen, werden von den Filmliebhabern geschätzt und bisweilen
von Enthusiasten ans Tageslicht geholt und vorgeführt, wie von jenen bei CineGraph in Hamburg.

Harold Nebenzahl 2002


Materialien zum gleichnamigen filmhistorischen Kongreß (2001)
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